Samstag, 1. Oktober 2016

Wir sind umgezogen. Oder: Jetzt geht's richtig los.

Dieser Blog war ein guter Prototyp. Inzwischen findet man uns aber leserfreundlicher - und mit wunderbaren Illustrationen deutlich aufgehübscht - unter traeumwasschoenes.de.

Sonntag, 7. August 2016

Jonas, Kokos und das Meer

Vorlesezeit ~ Neun Minuten (Serie)


Jonas hielt sich nicht für einen besonderen Jungen. Allerdings lebte Jonas alleine auf einer kleinen Insel mitten im Ozean und war deswegen wohl doch ziemlich besonders, denn nicht viele Jungen lebten alleine auf einer Insel. Aber vermutlich nahm Jonas einfach an, die meisten Menschen würden alleine auf einer Insel leben. Er wusste nämlich nicht besonders viel von der Welt. Das passierte eben, wenn man alleine auf einer Insel lebte. Obwohl keine anderen Menschen bei ihm lebten, hatte er trotzdem einen besten Freund: ein Gürteltier namens Kokos lebte bei ihm, und die beiden verstanden sich ohne Worte.

Eines Tages wollte Jonas in den kleinen Palmenwald auf seiner Insel gehen, um sich etwas zu essen zu holen und spazieren zu gehen. Er rief nach Kokos, wie er es immer tat, wenn er sich zu einem längeren Spaziergang aufmachte – und normalerweise tauchte Kokos dann kurz danach auf seiner Seite auf. Doch an diesem Tag kam Kokos nicht. Das kam Jonas komisch vor und er ging los, um ihn zu suchen. Schließlich sah Jonas das Gürteltier in einiger Entfernung am Strand sitzen und auf das Meer schauen.

Jonas rief ihn erneut, aber wieder reagierte Kokos nicht, sondern schaute weiter auf das Meer. Also ging Jonas alleine in den Wald und besorgte sich selbst und Kokos etwas zu essen. Als er wiederkam hatte er ein wahres Festmahl für Kokos bei sich, um seine Laune aufzubessern: eine reife Kokosnuss und viele, viele Insekten. Doch obwohl Kokos sich sonst immer auf Essen stürzte, sobald er es sah, aß er heute gar nichts. Stattdessen saß das Gürteltier weiterhin am Strand und schaute über das blaue Wasser hinweg auf den Horizont.

Jonas setzte sich neben Kokos, aß, und merkte schnell, was mit seinem Freund nicht stimmte. Als bester Freund hatte er da einfach ein Gefühl dafür entwickelt. Kokos war einsam und deswegen war er traurig und aß nichts. Stattdessen schaute er nur traurig auf den Horizont. Weil Jonas nicht wollte, dass sein bester Freund traurig war überlegte er sich, wie er ihm helfen konnte. Bald hatte er eine Idee.

Am nächsten ging Jonas gleich in der Früh zu einem Platz, an dem er alles ablegte, was im Laufe der Jahre von den Wellen auf die Insel gespült worden war. Muscheln, Holz, bunte Algen, aber auch leere Flaschen und sogar eine Badewanne. Es hatte sich einiges angesammelt. Jonas durchsuchte das Holz und die bunten Algen, bis er passende Formen und Farben gefunden hatte und dann fing er an zu basteln. Er fügte die einzelnen Teile zusammen, rief er sich immer wieder das Bild von Kokos in den Kopf und suchte sich neue Teile aus dem Haufen. Konzentriert klebte er Stück an Stück mit Baumharz aneinander. Er bastelte Kokos einen Freund.

Ein paar Stunden später war Jonas fertig. Ein Gürteltier aus Holz, Ästen, Algen und bunten Blättern lag vor ihm. In der Mittagssonne trocknete das Baumharz schnell, mit dem er seine Skulptur zusammengefügt hatte. Jonas war stolz auf sich und lief zu Kokos an den Strand.

Und tatsächlich war Kokos außer sich vor Freude, als Jonas die Figur in den Sand stellte. Kokos lief so schnell er konnte zu der Skulptur hin um sie zu erkunden. Er stupste sie an, roch an ihr und kletterte auf ihr herum. Doch bald merkte Kokos, dass das neue Gürteltier nicht auf ihn reagierte und sich überhaupt nicht bewegte und schnell erkannte Kokos, dass nicht wirklich ein Artgenosse vor ihm saß. Nun wirkte er noch trauriger als zuvor und drehte der Skulptur den Rücken zu, um wieder auf das Meer zu schauen.

Jonas näherte sich seinem Freund um ihn zu trösten, aber Kokos sah Jonas nicht an und rollte sich sogar zu einer Kugel zusammen, als Jonas ihn hochheben wollte. Das hatte er noch nie gemacht. Kokos ging es offensichtlich schlecht, und das machte inzwischen auch Jonas traurig. Irgendwie musste er Kokos dabei helfen, einen Artgenossen zu finden. Doch wie? Sie konnten diese Insel nicht verlassen.

Jonas setzte sich an den Strand, neben die hellbraune Kugel, in die sein bester Freund sich noch immer eingerollt hatte, und blickte aufs Meer. Irgendwo dort draußen musste doch ein anderes Gürteltier wohnen. Doch Jonas wusste nicht, ob er weit genug schwimmen konnte, um ein anderes Stück Land zu erreichen, denn von seiner Insel aus konnte man nur Wasser sehen, bis zum Horizont. Und Kokos konnte überhaupt nicht schwimmen.

Aber Jonas wusste auch nicht, wie man ein Floß oder ein Boot baute oder wie lange das halten würde. Es gab auch keine Schwimmwesten oder ähnliche Dinge, die ihnen beim Schwimmen helfen würden. Nicht einmal auf dem Platz der vielen Dinge, wo Jonas alles sammelte, was angespült wurde, gab es so etwas.

Plötzlich sprang Jonas auf. So plötzlich, dass Kokos sogar kurz seine Schnauze aus der Kugel steckte, die er war, und ihn neugierig anblickte. Dann rannte Jonas los, zum Platz der vielen Dinge. Eine Sache wurde angespült, die er benutzen konnte. Natürlich!

Am Platz der vielen Dinge angekommen, nahm er den stabilsten und geradesten Stock, den er finden konnte und stopfte ihn in den Abfluss der Badewanne, danach verschloss er den restlichen Abfluss wasserdicht mit Algen und Baumharz. Einen anderen geraden Stock band er quer an den ersten, so dass eine Art Kreuz entstand und baute dann einen zweiten Stock darunter.  Er ging einen Meter zurück und betrachtete sein Werk. Eine knapp zwei Meter lange Badewanne, aus der ein Mast mit zwei Querstreben herausragte. Es sah schon fast aus wie ein kleines Boot.

Eine Sache fehlte aber noch, und zwar das Segel. Also ging er zu der kleinen Höhle, in der er jede Nacht schlief, und nahm sich dort das einzige Hemd, das er besaß, lief zurück zu der Badewanne und knöpfte das Hemd auf. Dann spannte er die Ärmel um die obere Querstange und band den unteren Teil an der unteren Stange fest. Sein Hemd war nun ein Segel.

Als er schließlich mit dem Boot am Strand ankam, ging die Sonne schon wieder unter, doch Kokos lag noch immer an derselben Stelle wie heute morgen. Zwar war er nicht mehr zu einer Kugel zusammengerollt, aber dafür starrte er schon wieder auf den Horizont.

„Kokos!“, rief Jonas. Er lief von seinem frisch-gebauten Badewannenboot zu seinem Freund und kniete sich neben ihn. „Ich habe uns ein Boot gebaut. Damit können wir von der Insel runter. Schau mal da drüben!“

Jonas zeigte auf das Boot und war sich sicher, dass Kokos verstand, denn sein Freund hörte auf, traurig auf das Meer hinaus zu schauen. Stattdessen lief er nun auf Jonas zu und ließ sich das erste Mal seit zwei Tagen hochheben. Jonas nahm Kokos auf dem Arm und legte sich dann gemeinsam mit ihm in den Sand. Morgen würde es losgehen, die Suche nach einem Gefährten für Kokos. Rechts von ihm brachen sich die Wellen am Strand und sorgten für ein gleichmäßiges, sehr beruhigendes Rauschen. Das war der Strand, an den er seit Jahren jeden Tag ging, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Den schönsten Sonnenaufgang der Welt – da war sich Jonas sicher. Er mochte seine Insel.
Aber es war richtig, dass er ging. Kokos war traurig, weil es hier keine anderen Gürteltiere gab, und alleine würde er es nie schaffen, welche zu finden. In einer Freundschaft muss man sich eben gegenseitig helfen. Jonas schloss die Augen und hörte den Wellen zu, bis er einschlief.

Am nächsten Tag weckten Jonas nicht wie sonst die ersten Sonnenstrahlen, die gerade erst anfingen den Horizont orange einzufärben. Es war Kokos, der ihn immer wieder sanft mit seiner Schnauze anstieß. Er war so aufgeregt, dass sie sich heute auf die Suche nach anderen Gürteltieren machen würden.

Also stand Jonas auf, warf ein paar Kokosnüsse und Wasser als Proviant für die Reise in die Badewanne und nahm ein großes, zurechtgeschnitztes großes Stück Holz als Paddel in die eine Hand und Kokos in die andere und legte beides vorsichtig in sein besonderes Boot. Dann schob er es in das Wasser, sprang hinein und fing an zu paddeln. Sie kamen schnell vorwärts und bald hörte Jonas auf zu paddeln, spannte sein Hemd als Segel und überlies dem Wind die Arbeit.

Jonas blickte noch einmal zurück auf die kleine Insel, die seine Heimat war. Vielleicht hatte er sich hier alleine wohlgefühlt, aber trotzdem war es richtig, dass er sie nun verließ. Das war Freundschaft.
So fuhren sie nun in den Sonnenaufgang, ein Junge, der nicht so gewöhnlich war, wie er dachte und ein Gürteltier in seinem Arm, das seine Artgenossen suchte. Sie segelten über das Meer mit einer Badewanne als Boot und einem Hemd als Segel und wussten, dass sie bald gemeinsam große Abenteuer erleben würden.

Donnerstag, 2. Juni 2016

Videospiele

Vorlesezeit ~ 5 Minuten


Jedesmal, wenn Farid im Einkaufszentrum war, ging er in den Elektronikladen. Dort schaute er sich stundenlang um und sah sich alle Videospiele an, die es gab. Die Spiele, die ihn am meisten interessierten, hielt er oft stundenlang in der Hand, bevor er sie zurück ins Regal legte.

Farid liebte Videospiele, doch leider mochten seine Eltern sie gar nicht. Deswegen durfte er nie Videospiele zuhause spielen. Jedes Jahr wünschte er sich zum Geburtstag eine Konsole, aber jedes Jahr bekam er etwas anderes. Zwar bekam Farid zu seinem Geburtstag durchaus schöne Sachen geschenkt – letztes Jahr zum Beispiel ein Fahrrad. Aber er war doch immer ein bisschen enttäuscht, wenn er keine Konsole und keine Videospiele bekam.

Bald hatte er wieder Geburtstag und mal wieder stand er im Einkaufszentrum im Elektronikladen und schaute sich die Spiele und Konsolen an. Seinen Eltern würde er eine Liste schreiben, und seine Eltern würden diese Liste ignorieren. So lief es jedes Jahr - und trotzdem machte er sich jedes Jahr neue Hoffnungen.

In derselben Abteilung gab es heute noch einen anderen Jungen, der sich die Videospiele ansah. Farid beobachtete ihn, wie er durch die Abteilung stöberte, sich drei Spiele aussuchte und dann von seiner Mutter abgeholt wurde. Seine Mutter sagte nichts zu den Spielen, sondern nickte einfach nur, und sie gingen gemeinsam zur Kasse und zahlten. Farid staunte, denn bei seinen Eltern konnte er sich das gar nicht vorstellen.

Als Farid seine Liste schließlich fertig hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause. Er würde den Bus nehmen, wie immer. Als er jedoch das Einkaufszentrum verließ, stellte er mit Erschrecken fest, dass es in Strömen regnete. Er hatte keinen Schirm dabei und wartete deswegen unter dem Vordach des Einkaufszentrums auf den Bus. Er würde dann zu Station vorlaufen, wenn er den Bus ankommen sah. Plötzlich hörte er eine Stimme, die ihn ansprach.

Hey. Du warst doch gerade auch unten bei den Videospielen, oder?

Farid blickte zur Seite um zu sehen, woher die Stimme kam. Es war der andere Junge. Der, dessen Mama ihm die drei Spiele gekauft hatte, die er sich vorher ausgesucht hatte.

Ich bin Yannick. Willst du mit zu mir kommen und die Spiele mit mir spielen? Dann ist es nicht so langweilig! Ich wohne ganz in der Nähe.

Farid sah den Jungen ungläubig an. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Videospiele jemals langweilig sein konnten. Der Junge wirkte nett und außerdem konnte Farid zu Videospielen ohnehin nicht Nein sagen. Er schrieb seinen Eltern also wohin er gehen würde und folgte dem Jungen.

Wo ist denn deine Mama?, fragte Farid, während sie zu Yannick nach Hause liefen.

Die arbeitet. Genau wie mein Papa., antwortete Yannick.

Aber es ist Samstag?, fragte Farid verwirrt, doch Yannick zuckte nur die Schultern.

Wer hat dir denn dann davor die Spiele gekauft?, hakte Farid nach, während Yannick schon Schlüssel aus seiner Tasche kramte und die Tür zu einem Treppenhaus aufschloss.

Das war unser Au-Pair. Die hilft meinen Eltern im Haus. Und immer, wenn meine Eltern am Wochenende keine Zeit mit mir verbringen können, obwohl sie es anders versprochen haben, dann darf ich mir drei Videospiele aussuchen und sie kauft sie mir.

Und wo ist sie jetzt? Farid fand das alles sehr rätselhaft.

Sie ist gleich nach dem Einkauf zu einer Freundin gefahren. Sie hat heute eigentlich frei. Hier sind wir.

Yannick sperrte die Wohnungstür mit seinem Schlüssel auf, zog sie Schuhe aus und ging durch einen langen Flur direkt weiter in ein Zimmer. Farid folgte ihm, sah sich aber währenddessen mit großen Augen um. Die Wohnung war riesengroß und es war viel aufgeräumter als bei Farid zuhause. Und irgendwie wirkte alles sehr viel edler, auch wenn Farid nicht genau sagen konnte warum.

Doch als Farid Yannicks Zimmer betrat wurden seine großen Augen noch größer. Yanicks Zimmer war riesig und darin waren Videospiele, soweit Farid sehen konnte. Ganze Regale waren voll von Spielen und vor dem großen Fernseher standen drei verschiedene Konsolen.

Yannick schien sich an Farids Begeisterung zu freuen und bald saßen sie zusammen vor dem Fernseher und spielten Yannicks neue Spiele.

Sie spielten eine Weile und irgendwann meinte Farid: Das muss so cool sein, immer neue Spiele zu kriegen.

Yannick antwortete nicht. Als Yannick schließlich das dritte neue Spiel einlegen wollte, stellte Farid fest, dass er bald nach Hause musste.

Bleib doch hier, sagte Yannick. Es ist noch was zum Essen im Kühlschrank. Ich muss es nur in die Mikrowelle tun.

Doch Farid widersprach ihm. Er hatte es seinen Eltern versprochen zum Essen zuhause zu sein. Ein wenig ärgerte er sich. Das dritte Spiel wirkte wirklich cool. Er hätte gerne so coole Eltern wie Yannick.

Als Farid seine Schuhe anzog, warf er noch einen letzten Blick in Yannicks Zimmer. So viele Videospiele.

Yannick, wünscht du dir eigentlich auch immer nur Videospiele zum Geburtstag? Ich versuche das immer, aber meine Eltern kaufen mir nie welche.

Nein, antwortete Yannick. Ich wünsche mir nie Videospiele. Wie gesagt, ich bekomme immer dann drei, wenn meine Eltern nicht da sind, obwohl sie es versprochen haben.

Farid betrachtete noch einmal die Wand. Die ganzen Spiele wirkten nun gar nicht mehr so toll wie noch vor ein paar Minuten. Yannicks Handy vibrierte kurz. Wie Handys das eben machen, wenn sie eine Nachricht bekommen. Yannick schaute aufs Display.

Sie schaffen es heute beide nicht vor Mitternacht nach Hause, sagte er und wirkte dabei sehr enttäuscht. Naja, wie gesagt, ich habe ja noch was für die Mikrowelle da. Aber schade, dass du nicht bleiben willst.

Yannick begleitete Farid zur Wohnungstür und öffnete sie. Farid trat hinaus, blieb dann aber am Absatz stehen und drehte sich um.

Weißt du, sagte er zu Yannick, meine Eltern kochen sowieso immer viel zu viel zu Abend. Magst du heute nicht bei uns essen?


Yannick trat mit Farid vor die Tür, lächelte, und zog die Tür hinter sich zu.

Dienstag, 24. Mai 2016

Hanna von Löwenstein (Teil 4 von 4)

Vorlesezeit ~ 7 Minuten


Freiherr von Löwenstein war sehr erleichtert, als er hörte, dass seine Tochter zurück im Schloss war. Nach einer Weile wunderte er sich jedoch sehr, denn sie kam nicht zu ihm. Also fing er an sie zu suchen. Zunächst suchte er sie im Garten, weil das Wetter so schön war, dann in ihrer Lieblingsküche (dort gab es den besten Grießbrei) und schließlich ging er hinauf zu ihrem Zimmer. Dort lag ihre Reisetasche vor der Tür und Freiherr war sich sicher, seine Tochter nun endlich wiedergefunden zu haben. Doch als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, brach der Anblick ihm das Herz. Zwar war es seine Tochter, Hanna von Löwenstein, die er in dem Zimmer fand, aber sie lag auf ihrem Bett und weinte. Sie weinte so stark, dass sie schluchzte.

Freiherr war sich sicher, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein musste und bereute es sofort, dass er sie hatte gehen lassen. Er setzte sich zu ihr ans Bett und nahm sie in den Arm, so gut er es konnte. Lange sprachen sie kein Wort.

Papa, sagte sie irgendwann schluchzend, wusstest du, dass es Menschen gibt, die so arm sind, dass sie nichts haben außer ein paar Plastiktüten? Nicht einmal eine Wohnung haben die Menschen in der Stadt!

In der Stadt?, fragte Hannas Vater. Da bist du aber ganz schön weit gekommen! Ist es dort nicht gefährlich?

Hanna sagte ihm, dass die Welt viel weniger gefährlich sei, als er ihr das immer erzählte hatte. Dafür aber auch viel ärmer. Und dann erzählte sie ihm von Margarete, deren Haus so viel kleiner war als ihr Schloss, und von Jonas, der auf noch viel engerem Raum wohnte als Margarete. Und von dem Mann in der Stadt, der jede Nacht auf einer löchrigen Decke schlief und dessen gesamter Besitz in zwei Plastiktüten passte.

Freiherr von Löwenstein war zunächst erleichtert, dass seiner Tochter nichts zugestoßen war. Trotzdem tat es ihm weh, Hanna so traurig zu sehen und er musste etwas dagegen tun. Er überlegte, wie er ihr am Besten helfen konnte. Irgendwann, als Hanna erschöpft von der weiten Reise in seinen Armen einschlief, fasste er einen Entschluss: Er würde das erste Mal in seinem Leben das Schlossgelände verlassen.

Am nächsten Tag wachte Hanna von Löwenstein spät auf. Die Sonne, die sie durch ihr Fenster sah, stand so hoch, dass es schon beinahe Mittag sein musste. Sie rieb sich die Augen und verließ ihr Bett. Sie schaute hinein in ihr geräumiges und gemütliches Zimmer und fragte sich, wie wohl der Mann aus der Stadt letzte Nacht geschlafen hatte. Hatte es vielleicht geregnet? Sie konnte es nicht sagen, denn ihr Zimmer war immer trocken. Sie war hungrig und traurig und verließ das Zimmer, um sich bei ihrer liebsten Schlossküche ein Frühstück zu holen.

Als sie den Flur zur Schlossküche entlang ging, traute sie bald ihren Augen nicht. Da stand er vor ihr, der Mann, der auf der löchrigen Decke wohnte. Hier, in ihrem Schloss, in der Nähe ihrer liebsten Küche, zwischen Ritterrüstungen und edlen Teppichen. Er trug dieselben Klamotten wie am Vortag, aber sie wirkten viel sauberer. In der Hand hielt er eine Schüssel. In der Luft hing der Geruch von Milchreis.

Hallo, kleines Mädchen. Sagte er zu Hanna in seiner tiefen Stimme.

Hanna war schon lange kein kleines Mädchen mehr und hasste es eigentlich, wenn die Leute sie so nannten. Doch den Mann wieder zu sehen und zu wissen, dass es ihm gut ging, machte sie glücklich. Glücklich genug, um zu ignorieren, dass er sie „kleines Mädchen“ genannt hatte. Doch was machte er hier? Hanna schaute ihn verwirrt an und wusste nicht, was sie sagen sollte.

Du heißt Hanna, oder?, fuhr der Mann fort. Wir konnten uns ja nicht näher kennen lernen, weil du auf einmal weggelaufen bist.

Hanna blickte etwas verschämt zu Boden. Wahrscheinlich war es feige gewesen, einfach davon zu laufen. Sie hatte den Mann ja nicht einmal nach seinem Namen gefragt.

Ich bin Lion! Er streckte Hanna die Hand entgegen, in der er gerade keinen Milchreis hielt, und Hanna schüttelte sie. Ich bin Hanna, sagte sie. Und Lion fing an zu erzählen:

Bald nachdem du weg warst, ist ein Mann in meine Straße gekommen. Man hat sofort gesehen, dass er nicht aus der Stadt ist und er hat irgendwie verloren gewirkt. Sobald er aber meine Decke gesehen hat, sind seine Augen ganz groß geworden und er hat mich gefragt, ob ich ein kleines Mädchen getroffen hätte. Natürlich habe ich mich an dich erinnert und wir haben uns ein bisschen über dich und deine Reise unterhalten und dann über mich und wo ich wohne. Und dann, plötzlich, hat er mich gefragt, ob ich mit auf sein Schloss kommen möchte. Aber nicht nur mich, sondern auch alle anderen Menschen in der Stadt, die keine Wohnung haben! Er sagte, das Schloss sei so groß, dass ihr manche Gebäudeteile Monate lang nicht betretet und das wäre ja schließlich Verschwendung. Deswegen lässt er uns jetzt hier wohnen. Jeder hat sein eigenes Zimmer!

Hanna von Löwenstein blickte Lion ins Gesicht und fing an zu lachen. Dann machte sie plötzlich einen Sprung nach vorne und umarmte Lion, woraufhin auch er anfing laut zu lachen.

Als sie sich wieder losgelassen und sich fertig gefreut hatten, schob er sich einen Löffel Milchreis in den Mund. Er schloss die Augen vor Genuss.

Das ist wirklich gut!, sagte er. Ich habe mich heute in der Früh ein wenig im Schloss umgeschaut und die netten Leute aus der Küche haben mir eine Schüssel Milchreis gegeben. Einfach so!


Hanna wollte ihm sagen, dass es ganz viele Küchen gab, dass sie dort immer Essen hatten, dass das Schloss so groß war, dass man Jahre brauchte um es zu erkunden, dass sie sich wahnsinnig freute ihn zu sehen, dass der Grießbrei noch viel besser war als der Milchreis – aber sie wusste gar nicht wo sie anfangen sollte. Stattdessen lächelte sie noch ein wenig breiter als ohnehin schon. Das Schloss und seine Größe waren ihr noch nie so sinnvoll vorgekommen wie in diesem Moment. Jetzt musste sie aber erstmal ihren Vater suchen, um ihn ganz fest zu drücken.

Dienstag, 17. Mai 2016

Hanna von Löwenstein (Teil 3 von 4)

Vorlesezeit ~ 8 Minuten


Nachdem Hanna noch mit Margarete und ihren Eltern gefrühstückt hatte, brach sie auf um Jonas zu besuchen. Sein Haus war einfacher zu finden, als das von Margarete, denn es war viel größer. Das verwirrte Hanna. Hatte Margarete nicht gesagt, Jonas hätte weniger Platz als sie? Das Haus von Jonas war zwar nicht so groß wie Hannas Schloss, aber es hatte mehrere Stockwerke und hatte insgesamt eine beeindruckende Größe. Doch als sie sich dem Haus näherte, sah sie, dass es viele kleine Zettel gab, die von Plastik bedeckt waren und auf denen Nachnamen standen. Nicht nur einen, wie es bei Margarete der Fall gewesen war. Hanna war erstaunt. Anscheinend teilten sich all die Leute dieses Haus!

Nachdem sie Jonas Nachnamen gefunden und den Knopf daneben gedrückt hatte, summte die Tür und Hanna konnte sie öffnen. Jonas empfing sie dann bereits im Hausgang und führte sie zu einer Tür, auf der noch einmal sein Nachname stand. Dahinter warteten Jonas Eltern und seine Schwester und begrüßten Hanna sehr freundlich, bevor sie ihr die Wohnung zeigten. Doch diesmal ging es noch schneller als bei Margaretes Haus, denn die Wohnung war nicht groß. Es gab ein Zimmer für Jonas, ein kleineres Zimmer für seine jüngere Schwester, ein Zimmer für seine Eltern und ein kleines Wohnzimmer. Jonas Eltern erzählten, dass das Wohnzimmer einmal größer gewesen sei, aber damit Jonas kleine Schwester ein eigenes Zimmer haben konnte, haben sie eine zusätzliche Wand eingebaut und aus einem Zimmer zwei Zimmer gemacht.

Hanna verbrachte einen schönen Tag mit Jonas Familie, doch als sie beide alleine waren, stellte sie Jonas dieselbe Frage, die sie auch schon Margarete gestellt hatte:

Jonas, seid ihr arm?

Jonas reagierte wie Margarete und lachte, allerdings weniger laut.

Nein, wir sind nicht arm. Unsere Wohnung ist zwar nicht sehr groß, vor allem im Vergleich zu deinem Schloss. Aber es gibt zum Beispiel Leute, die haben gar kein Zuhause.

Hanna war schockiert, denn das hatte sie nicht gewusst. Jonas meinte, hinter den Hügeln gäbe es eine Stadt. In der lebten sehr viele Menschen, und einige davon waren so arm, dass sie sich gar keine Wohnung leisten konnten, egal wie klein oder groß.

Hanna blieb noch lange wach, nachdem Jonas schon eingeschlafen war, und dachte nach. Morgen würde sie in diese Stadt gehen und mit den Menschen reden, die so arm waren, dass sie sich nicht einmal eine Wohnung leisten konnten.

Als sie sich am nächsten Tag ihren Rucksack auf den Rücken schnallte, war sie sogar noch nervöser, als sie vor dem Verlassen des Schlossgeländes gewesen war. Sie würde weiter gehen, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Die Stadt hinter den Hügeln hatte sie von ihrem Zimmer aus nie gesehen. War diese Stadt vielleicht der gefährliche Ort, von dem ihr Vater immer geredet hatte?

Als Hanna die Straße in Richtung Stadt entlang ging, wurde das saftige Grün der Hügel immer weniger. Das lag aber nicht daran, dass immer weniger Gras wachsen würde, sondern vor allem daran, dass die Straße immer mehr Häuser passierte, die nun immer dichter aneinander standen. Vor diesen Häusern wuchs zwar dasselbe Gras wie auf den weiten Hügeln, aber es war eingezäunt und aus dem weiten Grün für alle wurde das kleine Grün einzelner Häuser.

Bald wurde die Straße auf der Hanna ging breiter und das Grün vor den Häusern verschwand schließlich auch, nur ersetzt durch Bäume, die ab und an aus dem Gehweg neben der Straße wuchsen. Die Häuser waren inzwischen allesamt so groß wie das von Jonas und es standen immer mehr Namen an den Klingelschildern. Hanna fragte sich, wie viele Menschen wohl in dieser Stadt lebten, denn es reihte sich ein großes Haus an das andere.

Bald kam Hanna an einem Mann vorbei, der sehr traurig aussah. Er saß auf dem Boden auf einer löchrigen Decke. Hinter ihm lag ein Haufen zerlumpter Klamotten und neben ihm waren zwei volle Plastiktüten. Um ihn herum war alles grau wie Beton, das einzige Grün in der Umgebung war eine Farbe auf dem Aufdruck seiner Plastiktüten.

Hanna ging auf den Mann zu und fragte ihn das, was sie schon Margarete und Jonas gefragt hatte.

Lieber Mann, bist du arm?

Der Mann sah sie ganz überrascht an. Er wurde wohl nicht oft angesprochen. Doch nachdem sich die Überraschung ein wenig gelegt hatte, schien der Mann anzufangen über Hannas Frage nachzudenken und die Antwort schien ihm nicht leicht zu fallen. Irgendwann antwortete er dann aber doch:

Ja, ich denke, das muss man so sagen. Ich bin arm.

Er zeigte auf den Haufen zerlumpter Klamotten und die vollen Plastiktüten.

Das dort sind alle meine Sachen.

Als er das sagte, zitterte seine tiefe Stimme kurz und er blickte zu Boden.

Wo ist denn dein Bett?, fragte Hanna und sah sich um, als könnte sie es gleich hinter einer Ecke entdecken.

Der Mann aber lächelte traurig und zeigte auf die löchrige Decke, auf der er saß. Hanna dachte an ihr Zimmer. Ihr Teppichboden wäre bequemer als das, was dieser Mann als Bett benutzte. Hanna wurde traurig und fragte sich, wie man so leben konnte. Doch als sie an Jonas und Margarete dachte, hatte sie noch einmal kurz Hoffnung. Denn beide waren glücklich dort, wo sie lebten, obwohl sie viel weniger hatten als Hanna. Das hatten sie zumindest gesagt. Also fragte sie den Mann:

Lebst du so, weil du es willst? Bist du gerne arm?

Jetzt lachte der Mann erstmals. Er hob seinen Kopf und schaute Hanna in ihr Gesicht.

Mein Kind, sagte er. Niemand ist gerne arm. Er lächelte nachsichtig und fügte an, Ich kann mir leider kein Dach über dem Kopf leisten. Weißt du, dafür sehe ich bei schönem Wetter immer als erster den blauen Himmel und kann immer als erster sagen, wenn es regnet.


Hanna dachte an ihr Schloss, dass im Winter warm und im Sommer angenehm kühl war. An ihren Kleiderschrank, der größer war, als Jonas gesamtes Zimmer und in dem die gesamten Besitztümer des obdachlosen Mannes wohl einfach in der Masse untergegangen wären. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie drehte sich weg und fing an zu rennen. Sie sagte dem Mann nicht Tschüss und sie sah sich auch nicht um nach der Stadt, in der Leute so arm waren, dass sie kein Zuhause hatten. Sie lief und lief, so schnell sie konnte. Ins Schloss. Zu ihrem Vater. Nach Hause.

Sonntag, 8. Mai 2016

Hanna von Löwenstein (Teil 2 von 4)

Vorlesezeit ~ 5 Minuten


Wie viele andere Schlösser auch stand das Schloss von Hanna von Löwenstein auf einem Hügel. Um diesen Hügel herum waren viele kleinere Hügel, auf denen allesamt saftiges, grünes Gras wuchs. Von ihrem Fenster aus hatte Hanna oft verträumt die Hügel betrachtet, die sich bis an den Horizont erstreckten. Kleine Straßen und Wege zogen sich durch die grüne Landschaft und verbanden die Häuser, die meistens auf den Gipfeln der Hügel standen.

In einem dieser Häuser wohnte Hannas Freundin Margarete. Das Haus von Margarete hatte Hanna schon von ihrem Zimmerfenster aus gut erkennen können, denn es hatte ein strahlend blaues Dach. Nun war sie sehr gespannt, wie es von innen aussah – das erste Haus außerhalb des Schlosses. Sie würde sogar bei Margarete übernachten. Hanna war deswegen sehr aufgeregt, denn sie hatte natürlich noch nie bei jemand anderem geschlafen.

Doch bis dahin musste sie das Haus erstmal finden. Auf dem Boden war es deutlich schwieriger, das Haus zu finden, als von ihrem Fenster aus, und sie musste immer mal wieder auf einen der Hügel steigen, um einen Überblick über die Umgebung zu bekommen. Als Hanna das Haus schließlich gefunden hatte, war sie zunächst sehr verwirrt. Es gab nämlich kein Eingangstor, sondern nur ein kleines Gartentürchen – und das war verschlossen. Bei ihnen zuhause meldeten sich Gäste immer beim Pförtner und der brachte sie dann zum Schloss. Aber Hanna sah nirgendwo ein Pförtnerhäuschen und konnte sich auch nicht vorstellen, dass dieses kleine Tor, das ihr gerade einmal bis zur Taille ging, einen Pförtner hatte.

Also stand Hanna vor der verschlossenen Tür und schaute auf das Haus. Nichts geschah. Sie schaute sich um, denn irgendwie mussten sich Gäste hier doch bemerkbar machen können. Gerade als sie überlegte, einfach Margaretes Namen zu schreien, sah sie neben dem kleinen Tor einen Zettel, der von Plastik verdeckt wurde. Auf dem Zettel stand der Nachname von Margarete und neben dem Zettel war ein Knopf. Weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte, drückte sie den Knopf und eine Glocke ertönte im Haus. Gerade als Hanna sich wunderte, was für ein seltsames Musikinstrument dieser Knopf wohl bediente, öffnete sich die Haustür. Margarete schaute heraus und lächelte die perplexe Hanna an.

Nachdem Margarete Hanna erklärt hatte, dass sie so eben zum ersten Mal eine Türklingel bedient hatte, zeigte sie Hanna ihr Haus und stellte sie ihren Eltern vor. Margaretes Eltern waren sehr nette Leute und Hanna gefiel auch das Haus. Das Blau, das auch die Dachziegel hatten, war die Lieblingsfarbe von Hannas Eltern und fand sich überall im Haus wieder. Es gab blaue Schränke, blaue Vasen und sogar blaue Teller und Schüsseln. Es war ein sehr schönes Blau und Hanna fand, dass jeder Gegenstand in dieser Farbe gleich viel schöner wirkte.

Doch nachdem Margarete sie ein wenig durch das Haus geführt, und ihr alle blauen Dinge gezeigt hatte, kam Hanna sich komisch vor. Um ihr Schloss zu erkunden hatte sie Jahre gebraucht und sie war sich sicher, noch immer nicht alle Ecken zu kennen. Die Führung hier hatte trotz vieler Geschichten, die Margarete und ihre Eltern zu den Zimmern und den Gegenständen darin erzählten, nur ein paar Minuten gedauert. In Hanna stieg eine Frage auf, die sie nicht los ließ, die sie sich aber nicht zu stellen traute. Sie spielte mit Margarete und ihren Eltern Brettspiele, bis sie und Margarete ins Bett gingen und versuchte sich die Frage nicht anmerken zu lassen. Als sie jedoch allein in Margaretes Zimmer lagen, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und sie stellte ihre Frage.

Margarete, fragte Hanna. seid ihr arm? Euer Haus ist so klein.

Margarete musste lachen.

Nein. Wir sind nicht arm. Wir haben ein Haus, in dem nur ich und meine Eltern wohnen und es ist ein sehr schönes Haus. Es gibt Häuser, da wohnen viel mehr Menschen als wir, und die haben viel weniger Platz! Dein Schloss ist einfach nur sehr groß. Jonas zum Beispiel hat viel weniger Platz als wir.


Bald darauf schlief Margarete, doch Hanna blieb wach. Wie lebten Leute nur in etwas, das noch kleiner war als dieses Haus? Morgen, überlegte sie, würde sie ihren gemeinsamen Freund Jonas besuchen. 

Mittwoch, 4. Mai 2016

Hanna von Löwenstein (Teil 1 von 4)

Vorlesezeit ~ 9 Minuten


Hanna von Löwenstein lebte auf einem Schloss. Das Schloss, in dem Hanna lebte, war sehr groß und stand auf dem größten Hügel in der ganzen Umgebung. Diese Geschichte spielt aber nicht vor langer Zeit und Hanna war auch keine Prinzessin. Hanna war ein ganz normales blondes Mädchen mit Handy und Freundinnen und sie ging zur Schule. Trotzdem lebte sie auf einem Schloss. Und das war eben sehr groß. So groß, dass ihre Schule in ihrem Schloss war und dort locker hinein passte. Weil ihre Freundinnen sowieso in die Schule mussten, kamen sie zum Spielen und zum Reden immer zu Hanna. Deshalb musste sie das Schloss nie verlassen um jemanden zu besuchen.

Das Schloss war so groß, dass einem dort nur schwer langweilig wurde, denn man konnte sehr viele verschiedene Dinge tun. So viele sogar, dass Hanna das Schloss noch nie in ihrem Leben verlassen hatte, weil es hier alles gab, was man brauchte. Doch weil das Schloss so groß war, wurden auch manche Sachen kompliziert, die eigentlich ganz einfach waren. Geburtstag feiern zum Beispiel. Immer wenn Hanna viele andere Kinder in ihr Schloss einlud, verirrten sich einige in den alten Gängen zwischen den Ritterrüstungen und den Gemälden von dicken Frauen. Manchmal verirrten sie sich so sehr, dass sie erst Wochen später wieder zum Vorschein kamen. Zum Glück wurde einem auf dem Schloss nicht langweilig - auch verirrten Kindern nicht – und nach einigen Wochen tauchten alle Kinder dann wieder auf. Und meistens hatten sie die spannendsten Geschichten zu erzählen, was sie alles erlebt hatten.

Auch Hanna liebte es tagelang durch das Schloss zu streifen und Neues zu entdecken. Im Laufe der Jahre hatte sie dort allerhand erlebt. Zum Beispiel gab es überall in dem Schloss Küchen. In jeder davon wurde ständig gekocht und gebacken und gearbeitet und die Küchenhelfer und Köche gaben nur allzu gerne etwas an Besucher ab. Das war gut, denn das Essen dort war sehr lecker, und die Kinder, die auf Hannas Geburtstagen verloren gingen, kamen deswegen auch immer ein bisschen dicker zurück, als sie vorher waren.

Neben den Küchen gab es viele weitere spannende Dinge im Schloss. So zum Beispiel Gänge mit Decken, die so hoch waren, dass eine Giraffe darin aufrecht stehen konnte – und andere mit Decken, die so niedrig waren, dass sogar Hanna sich bücken musste um hinein zu passen. Es gab Geheimgänge hinter alten Bildern und Räume, die seit Jahren niemand betreten hatte. Einmal, so erzählte Hanna immer, hatte sie eine Tür geöffnet und einem ausgewachsenen Löwen direkt in die Augen geblickt!

Doch eines Tages blickte Hannah aus ihrem Fenster auf die grünen Hügel und die Häuser auf den Hügeln. Sie sah die Wege, welche die Häuser verbanden und fragte sich, wie es wohl war, darauf zu laufen. Also ging sie los, um ihren Vater zu fragen, ob sie das Schloss verlassen dürfe.
Ihr Vater hieß Freiherr von Löwenstein. Warum seine Eltern ihn Freiherr genannt hatten, wusste Hanna nicht. Vermutlich weil es so mächtig klang. In jedem Fall war es ein Name, der zu ihm passte: Er war ein sehr großer, sehr bärtiger und sehr dicker Mann mit einer tiefen, kräftigen Stimme. Als Hanna ihn fragte, ob sie das Schloss verlassen dürfe, reagierte er sehr abweisend:

Die Welt außerhalb des Schlosses?, fragte ihr Vater. Warum das denn? Dort draußen ist es wahnsinnig gefährlich! Hast du hier drin denn nicht alles was du brauchst?

Hanna war enttäuscht und traurig. Natürlich hatte sie alles, was sie brauchte. Aber trotzdem wollte sie die Welt sehen und auch mal bei ihren Freunden zu Gast sein und sie nicht immer nur hierher einladen. Die Antwort ihres Vaters gefiel ihr also gar nicht. Sie beschloss, ihren Vater am nächsten Tag noch einmal zu fragen

Vor dem Mittagessen ging Hanna von Löwenstein also am nächsten Tag erneut zu ihrem Vater und stellte ihm die gleiche Frage wie am Vortag.

Lieber Papa, warum darf ich das Schloss denn nicht verlassen? Ich möchte die Welt sehen!

Doch Freiherr von Löwenstein antwortete wieder genauso wie am Tag zuvor.

Die Welt außerhalb des Schlosses? Warum das denn? Dort draußen ist es wahnsinnig gefährlich! Hast du hier drin denn nicht alles was du brauchst?

Hanna wusste nicht was sie tun sollte und überlegte sich, ob ihr Vater Recht hatte. Vielleicht war die Welt wirklich zu gefährlich, um sie zu erkunden. Als sie am selben Abend mit ihren Freundinnen telefonierte, versicherten sie ihr jedoch, dass die Welt außerhalb der Schlossgründe gar nicht so gefährlich war, wie Hannas Vater tat. Die mussten das wissen, schließlich lebten sie ja selbst dort! Also nahm Hanna von Löwenstein noch einmal allen Mut zusammen und fragte ihren Vater ein drittes Mal, ob sie das Schloss verlassen dürfe. Schließlich habe sie mit ihren Freundinnen geredet und heutzutage sei es bestimmt viel weniger gefährlich dort draußen, als zu dem Zeitpunkt, zu dem er zum letzten Mal das Schloss verlassen hatte.

Das Schloss verlassen? Ich?, sagte ihr Vater. Nein, ich war noch nie dort draußen. Das ist viel zu gefährlich. Das hat mir schon mein Vater gesagt. Hier im Schloss gibt es alles, was man braucht.

Hanna machte große Augen, als ihr Vater das sagte. Dass ihr Vater selbst noch nie das Schloss verlassen hatte, hätte sie nie gedacht. Sie ließ sich davon aber nicht beirren. Er hatte sich schließlich verraten. Wie sollte er wissen, ob es außerhalb des Schlosses gefährlich war, wenn er es selbst nie verlassen hatte? Nachdem Hanna ihn darauf hinwies, machte er bald einen Vorschlag.

Nun gut, Hanna. Du darfst das Schloss verlassen und deine Freundinnen besuchen. Solltest du dir aber auch nur einen Kratzer holen, bleibst du danach für immer im Schloss. Und nun geh schlafen, es ist spät.

Auch das fand Hanna von Löwenstein nicht ganz fair. Ein einziger Kratzer sollte über ihr restliches Leben entscheiden? Sie wollte erneut widersprechen, machte sich aber klar, dass sie endlich die Erlaubnis ihres Vaters hatte, das Schloss zu verlassen. Das war alles was sie wollte. Sie würde schon keinen Kratzer abkriegen – und wenn doch, dann war es das Risiko sicher wert.

Am nächsten Tag wachte sie voller Vorfreude auf, rief ihre Freundin Margarete an, ob sie heute zu Hause sei und packte ihren Rucksack voll mit allerlei Dingen, die man auf einer so großen Reise brauchen konnte. Am nächsten Tag schon durchquerte sie mit einem großen Rucksack auf dem Rücken den Schlossgarten. Sie ging vorbei an Hecken, die zu vielen verrückten Formen geschnitten waren (eine sah genauso aus wie ein Sahnebonbon; eine andere wie eine dreistöckige Torte) und passierte Statuen aus Marmor, die meistens nackte Menschen ohne Arme zeigten. Dazwischen waren Brunnen, Wasserspiele, sowie ein Fußball- und ein Basketball-Feld, auf denen fast nie jemand spielte und zwischen alldem war das saftigste und grünste Gras, das Lena kannte.

Sie blieb an dem großen, schmiedeeisernen Tor stehen, das die Grenze der Schlossgründe markierte, und blickte sich noch einmal um. Der Garten war wunderschön. Hanna dachte an die vielen, vielen Stunden, die sie hier verbracht hatte. Ihre Freundinnen waren doch immer in diesen Garten gekommen und hatten gerne mit ihr gespielt, warum sollte sie ihn nun verlassen? Was, wenn es dort draußen wirklich so gefährlich war, wie ihr Vater gesagt hatte? Warum sollte sie ihre Gesundheit riskieren, wenn sie doch hier alles hatte, was irgendjemand jemals brauchte – und noch mehr. Das schlimmste, was dieser Garten ihr je angetan hatte, waren aufgeschlagene Knie, wenn sie beim Spielen hingefallen war.

Sie wandte ihren Blick nach vorn und blickte entschlossen auf die hügelige Landschaft. Sie ging einen Schritt vorwärts. Nun stand sie vor dem Tor. Sie hatte das Schloss verlassen, zum allerersten Mal in ihrem Leben.

Es war an der Zeit, dass sie ihre Freundinnen besuchte.